HANS-HENNING LÜHR ist seit 2003 Staatsrat im Finanzressort der Freien Hansestadt Bremen. Er wurde 1950 in Winsen (Luhe) geboren und ist verheiratet. Nach einer Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst in der Landes- und Kommunalverwaltung in Niedersachsen studierte Hans-Henning Lühr bis 1978 Rechtswissenschaften, Betriebswirtschaft und Geschichte an der Universität Bremen. Seit Januar 2019 ist er Vorsitzender des IT-Planungsrats. Der IT-Planungsrat ist das politische Steuerungsgremium von Bund, Ländern und Kommunen für Informationstechnik und E-Government.

Wo liegen aktuell die digitalen Herausforderungen und welche notwendigen Maßnahmen muss die Verwaltung realisieren?

Hans-Henning Lühr: Das Onlinezugangsgesetz (OZG) ist der Maßstab, an dem die Verwaltung gemessen wird: Die sukzessive und aufgabenbezogene Umsetzung von Online-Diensten, der digitale Zugang von Bürgern und Unternehmen (elektronischer Identitätsnachweis eID) sowie die Modernisierung von Portalen und Registern sind dabei die zentralen Herausforderungen. Um nicht von vornherein zu kurz zu springen, muss die Online-Stellung der Dienstleistungen mit zugrundeliegenden Prozessen verknüpft werden. Die Orientierung an Geschäftsprozessen ist notwendig, um auch langfristige Effekte in der Dienstleistungserbringung zu erreichen.

Was kommt nach dem OZG?

Ziel wird es sein, Prozesse weiter zu vereinfachen. Bisher muss für jede Dienstleistung jeweils ein Antrag gestellt werden. Für die Vision, mit wenigen Klicks auf dem Smartphone eine Leistung zu beziehen, müssen wir solche Regelungen hinterfragen und für das Zeitalter der Digitalisierung angemessen weiterentwickeln. Rund um die digitale Daseinsvorsorge hat sich eine neue Qualität der Diskussion ergeben. 75 Prozent der öffentlichen Verwaltungsdienste werden auf kommunaler Ebene erbracht und sind eng mit Entwicklungen digitaler Dienstleistungen im zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sektor verknüpft. Das Thema wird damit zum Politikum und wirft weitere Fragen auf: Benötigen wir womöglich eine gemeinsame Plattformökonomie, um die umfassende Daseinsvorsorge vor Ort gewährleisten zu können? Wie wird die digitale Souveränität sichergestellt? Wie kommen wir zu einem gemeinsamen Dienstleistungsmanagement zwischen Kommune, zivilgesellschaftlichen Institutionen und dem Markt? Wie bilden wir neue Prozesse im Rahmen eines mehrere Ebenen übergreifenden Verwaltungsmanagements im Föderalismus ab? Über diese Veränderungsoptionen müssen wir ab sofort verstärkt nachdenken und einen Diskurs eröffnen. Wir dürfen bei der Digitalisierung in Deutschland auf keinen Fall wieder den Anschluss verlieren. Das OZG ist heute aktuell, aber die digitale Daseinsvorsorge ist unsere Zukunft.

Viele Wege – viele Optionen. Wie behalten Sie den Überblick?

Die föderalistische Organisation von Bund, Ländern und Kommunen benötigt eine neue Staatskunst. Dabei sind vier Ebenen von Bedeutung:

  • Der im Grundgesetz festgelegte Föderalismus braucht eine „Renaissance der Gemeinschaftsaufgaben“, also eine gemeinsame Klammer, die das übergreifende Handeln von Bund, Ländern und Kommunen verbindet. Der IT-Planungsrat nach Art. 91c GG muss deshalb zur politischen Drehscheibe werden.
  • Bund, Länder und Kommunen müssen die Digitalisierung als Gesamtaufgabe aller Entscheider praktizieren und als „Digitalregierungen“ funktionieren. Bremen hat z. B. eine ressortübergreifende Koordinierung auf Staatssekretärsebene eingerichtet, die sehr ernst genommen wird, da sie auch über das Budget entscheidet.
  • Wir haben uns in Bremen rund um die Digitalisierung mit einer ganzen IT-Abteilung neu aufgestellt. Dort werden nicht mehr nur der Betrieb der IT-Infrastruktur und die Weiterentwicklung der Basiskomponenten gesteuert – ein Referat beschäftigt sich aus- schließlich mit Rechtsetzung und Controlling. Wir haben außerdem in einer IT-Garage ein Digitalisierungsbüro eingerichtet. Um Unternehmensleistungen kümmert sich ein weiteres Referat. Und auch die bundesweit bekannte und agierende Koordinierungsstelle für IT-Standards (KoSIT) gehört dazu. Gemeinsam koordiniert und organisiert diese Struktur alle relevanten Entwicklungsstränge.
  • Konzepte zur Digitalisierung oder Modelle wie die Arbeit 4.0 müssen wir aus dem Workshop-Modus in den Alltag überführen. Verwaltungseinheiten sollten wir in die Lage versetzen, eigenverantwortlich zu handeln – Stabstellen und Berater haben nur unterstützende Funktionen.
Wie wichtig sind Open-Source-Lösungen und -Technologien für die digitale Souveränität?

Wichtig ist zunächst die digitale Souveränität – ob die Software als Open Source oder per Lizenz vertrieben wird, ist nachrangig. Zwei Dinge sind aber wichtig: Wir wollen mittel- und langfristig auf einen Markt von Softwareherstellern für die öffentliche Verwaltung zugreifen, um nicht von einzelnen Mono- oder Duopolen abhängig zu sein. Aktuell ist die Branche leider noch von Konsolidierungsprozessen gekennzeichnet. Langfristig müssen wir aber die Kontrolle über die IT-Sicherheit und die Daten behalten und dürfen uns hier nicht von Konzernstrategien oder anderen Regierungen abhängig machen. Dazu werden wir in einen Dialog mit Anbietern und Herstellern eintreten.

Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit?

Ist eine sozial nachhaltige IT eher Utopie oder realistisches Ziel? Bremen engagiert sich schon sehr lange für die sozialverträgliche IT-Beschaffung. Bereits 2015 haben wir ein Bündnis für sozialverträgliche IT-Beschaffung gegründet, an dem übrigens auch Technologielieferanten von Bechtle beteiligt sind. Wir sind der Ansicht, dass auch wir als Nutzerinnen und Nutzer von IT eine Verantwortung für die Menschen haben, die in der Lieferkette dazu beschäftigt sind. Das fängt mit den Minenarbeitern in Afrika an und reicht bis zu den Arbeitsbedingungen in den Fabriken in Asien, wo nicht immer alle Standards der ILO eingehalten werden. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob das eine Utopie ist. Auch der Ressourcenverbrauch muss reduziert werden – unser Dienstleister Dataport hat deshalb eines der energieeffizientesten Rechenzentren in Deutschland bauen lassen.

Was wünschen Sie sich in den nächsten Jahren von IT-Partnern und wie kann Bechtle Sie auf dem Weg begleiten?

Wir brauchen eine kluge Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Behörden, IT-Dienstleistern in öffentlicher Hand und Lieferanten. Dabei sollte der Wettbewerb gestärkt werden. Und gleichzeitig müssen die Daten und ihre Verarbeitung sicher, nachvollziehbar und in unserer Kontrolle bleiben. Bechtle kann uns unterstützen, die richtigen Lieferanten auszuwählen, und Dataport als verlässlicher Partner weiter bei den Geschäftsprozessen, beim User Help Desk oder in den Support- und Auslieferungsprozessen für Hardware begleiten. Im Ergebnis ist das dann auch für uns eine Hilfe. Darüber hinaus benötigen wir einen zielführenden Dialog, der über die Lösung von Alltagsproblemen hinausreicht. Von Wirtschaftsunternehmen erwarte ich dabei einen konstruktiven Beitrag, um öffentliche Aufgaben im Rechts- und Sozialstaat zielgerichtet weiterzuentwickeln. Der Staat steht in Zeiten von Umbrüchen und Krisen vor großen Herausforderungen – betriebswirtschaftliche Blaupausen werden nicht ausreichen.

Wie lautet Ihr Fazit zum Kongress Digitaler Staat und welche Schlüsse ziehen Sie für die Verwaltung von morgen?

Es wird immer deutlicher, dass Sonderwege und Alleingänge nicht mehr das Mittel der Wahl sind. Wir brauchen die föderale Zusammenarbeit und zwar noch viel intensiver als bisher. Dass der IT-Planungsrat die FITKO (Föderale IT-Kooperation) gegründet hat, ist ein wesentlicher Schritt nach vorn. Um Verwaltungsleistungen von Bund, Ländern und Kommunen standardisiert zu digitalisieren, müssen wir die FITKO nun sukzessive aufbauen und stärken. Und die Länder müssen noch viel enger als bisher kooperieren, um die arbeitsteilige OZG-Umsetzung auch wirklich rechtzeitig zu schaffen. Der IT-Planungsrat ist inzwischen eine wichtige digitalpolitische Drehscheibe, die auch gesellschaftspolitische Wirkungen erzielt. Daran arbeite ich aktuell mit allem Nachdruck.

DEN KULTURELLEN WANDEL ORCHESTRIEREN.

Seit Jahren begleitet Bechtle öffentliche Verwaltungen sehr erfolgreich beim digitalen Wandel. Steven Handgrätinger, Leiter Public Sector, Bechtle AG, liefert zukunftsfähige Antworten rund um Transformation, Disruption und den notwendigen Kulturwandel.

STEVEN HANDGRÄTINGER Leiter Public Sector, Bechtle AG

Was sind für Sie die Kernbotschaften des Kongresses?

Steven Handgrätinger: Der Veranstalter Behörden Spiegel hat im Vorfeld eine klare Botschaft kommuniziert: „Zukunftsfähige Antworten auf die Herausforderungen der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung müssen agil, legitim und elegant sein.“ Aus meiner Sicht ist vor allem mit dem Onlinezugangsgesetz viel Dynamik in die Digitalisierung der Verwaltung gekommen. Kritischer Erfolgsfaktor ist dabei die föderale Zusammenarbeit aller Beteiligten, die Services und Modelle gemeinsam entwickeln und nutzen. Heißt: Vertreter aller Ebenen aus Bund, Ländern und Kommunen setzen anspruchs- volle digitale Projekte einheitlich und strukturell um. Die ersten Schritte sind also gemacht und die Richtung stimmt. Das Ziel erreichen wir letztlich umso schneller, wenn die Verwaltungen außerdem eng mit öffentlichen IT-Dienstleistern und der Wirtschaft kooperieren. Über allen Maßnahmen sollte der Anspruch stehen, manuelle betriebliche Vorgänge in digitale Prozesse umzuwandeln. Eine schlichte Elektronifizierung oder technologische Modernisierung bestehender Verfahren ist hier nicht ausreichend. Mein Fazit: Vieles entsteht und es gilt die Zusammenarbeit zu orchestrieren, um agil, legitim und elegant vorwärts zu kommen.

An welchem Punkt befindet sich die öffentliche Verwaltung im Prozess der Digitalisierung aktuell?

Es wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Die Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes ist in vollem Gang, der DigitalPakt Schule schafft infrastrukturelle Grundlagen für digitale Bildung. Beide Konzepte verleihen der Verwaltungsdigitalisierung sehr viel Dynamik. Der Transfer in eine digitale Welt ist jedoch sehr komplex und erinnert an den Zauberwürfel Rubik‘s Cube – Drehen allein hilft nichts, es bedarf einer Strategie. Papier in digitale Prozesse und in digitale Räume zu übertragen, erfordert neues Denken und Handeln. 

Wie kann Bechtle den Public Sector als Technologiepartner begleiten?

Öffentliche Auftraggeber wissen, dass sie beim Thema digitale Transformation zügig handeln müssen. Das Bewusstsein für die Situation ist da: Sie modernisieren, sichern und flexibilisieren ihre Infrastruktur, digitalisieren Services und nutzen moderne Privat-Cloud-Strukturen. Ein Weg, für den es Ressourcen braucht. Dabei stellt sich häufig die Frage nach dem „Wie“, vorab steht allerdings noch das „Was“. Über qualifizierte Beratung wollen wir im Ökosystem der Verwaltung Orientierung für einen praxisorientierten Lösungsansatz liefern und die sehr hohe Komplexität der Anforderungen erfassen. Mit dem digitalen Kompass haben wir eine Metrik entwickelt, die methodisch jederzeit wiederholbar ist. Auf diese Weise wollen wir den notwendigen Kulturwandel bestmöglich unterstützen. Mit dem Ziel, dass realisierte Maßnahmen auf die digitale Rendite einzahlen.

Was versteht Bechtle unter souverän, smart und startklar?

Um den Wandel erfolgreich zu gestalten, müssen Verwaltung und Industrie eng verzahnt zusammenarbeiten. Im Prozess braucht es verlässliche Digitalisierungspartner mit viel Erfahrung rund um Strategie, Zielsetzung, Organisation, Prozesse, Anwendungen und IT-Infrastrukturen. Grundsätzlich ist die digitale Transformation weniger eine Frage der Technologie, sondern eine Frage der Führung. Als IT-Unternehmen unterstützen wir den Public Sector, Entwicklungen aktiv, agil und trotzdem pflichtbewusst voranzutreiben.

Darüber hinaus empfehlen wir ausgeprägte Workflow-Analysen, um lokale und kommunale Prozesse, die Interaktion mit Kunden sowie den Zugriff auf Register zu ermöglichen und Services für die Zielgruppe möglichst smart zu gestalten. Außerdem ist in allen Bereichen der IT viel Multi-Vendor-Kompetenz rund um Hardware, Services, Sicherheit und Software gefordert. Speziell dann, wenn es darum geht, Verwaltungsprozesse und neue Dienste zu digitalisieren sowie den sicheren Zugriff auf modernste Informations- und Kommunikationstechnologien zu managen. Dabei ist der Reifegrad der über 20 Merkmale der Souveränität das Leitmotiv aller Aktivitäten. Wir sind souverän im Umgang mit IT-Infrastrukturen und smart rund um aktuelle Themen wie Digitalisierung, Cloud, Mobility, Security und IT als Service. Man könnte auch sagen, wir sind startklar, um die öffentliche Verwaltung auf diesem Weg zu begleiten.

Was versteht Bechtle unter souverän, smart und startklar? Wie sieht die öffentliche Verwaltung morgen aus?

Initiativen wie das Onlinezugangsgesetz, das E-Government-Gesetz, die Gründung der FITKO, der Digitalpakt oder die IT-Professionalisierung und -Konsolidierung verändern den Öffentlichen Sektor in den nächsten Jahren nachhaltig. Es warten vielfältige Herausforderungen, die nur realisierbar sind, wenn Services und deren Erbringung möglichst effizient gebündelt und digital erbracht werden. Entscheidend wird sein, die Bedürfnisse von Bürgern und Kunden zu erkennen, um die Verschmelzung von Smart Cities und digitalen Verwaltungsleistungen realisieren zu können. Letztendlich geht es – wie in der Smart- Cities-Charta beschrieben – um die Schaffung von nachhaltig lebens- werten Städten. Dazu müssen Verwaltungen „Entwicklungsakteure“ sein und die Reise der Kunden zum Erlebnis machen.

DAS ONLINEZUGANGSGESETZ (OZG) verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis Ende 2022 ihre Leistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen sollen Verwaltungsdienstleistungen zukünftig schneller, effizienter und nutzerfreundlicher beziehen können.

Dieser Artikel stammt aus der Printausgabe Bechtle update 01/2020. Die Printausgabe können Sie kostenlos bestellen, abonnieren oder als pdf-Datei herunterladen.
 

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