Der Hohe Fläming südwestlich von Berlin ist schon so etwas wie eine Modellregion innovativer Land-Wirtschaft, die sich innerhalb nur weniger Jahre entwickelt hat. Seit 2017 gibt es im dortigen 75-Seelen-Dorf Klein Glien, das zur Gemeinde Bad Belzig gehört, das „Coconat – a workation retreat”. Kombiniere: ein Ort für Arbeit und Auszeit in einem. Tatsächlich hat sich in einem ehemaligen Gutshaus ein Coworking Space angesiedelt, wo Freiberufler oder auch Teams von Großunternehmen Quartier beziehen, um ein paar Tage allein oder zu mehreren naturnah zu arbeiten. Das Retreat brummt, bei WLAN und vegetarischem Biofood finden sich sogar schon Besucher aus San Francisco ein. Und das ohne Umweg über Berlin.

Doch das Coconat ist auch Keimzelle weiterer Entwicklungen. So gewannen die Betreiber die Bürgermeister von Bad Belzig und dem benachbarten Wiesenburg dafür, sich gemeinsam als „Smart Village” zu bewerben. Im Rahmen eines Wettbewerbs der Medienanstalt Berlin-Brandenburg wurde der Titel dann tatsächlich erlangt. Dass der Belziger Bürgermeister Roland Leisegang früher Drummer der Band Keimzeit war, passt da gut ins Bild. Er und sein Wiesenburger Pendant Marco Beckendorf sind seitdem treibende Kräfte der regionalen Smartness.

Man will bewusst Gemeinschaften bilden, die ähnliche Interessen haben und sich trotzdem ergänzen. Arbeiten und leben an einem Ort bildet für viele ein zentrales Motiv.
Auf einmal wächst das.

Seit 2019 ist unweit des Bahnhofs von Wiesenburg nun auch das „KoDorf” am Start. Rund um ein altes Sägewerk entstehen hier rund 40 Tiny Houses, Werkstätten, Gemeinschaftsflächen für Coworking, Yoga und mehr. Ein Hofladen, eine Dorfschenke und eine Kita sind auch geplant. Das Fläminger Dorf ist als skalierbares Modellprojekt auch für andere Standorte gedacht.

Das zukünftige Landleben größer zu denken, ist auch Anliegen von „neuland 21”, einem gemeinnützigen Thinktank, der, wenig überraschend, ebenfalls in Bad Belzig seinen Sitz hat. Die Politikwissenschaftler, Design Thinker, Innovationsforscher und Kommunikationsexperten befassen sich grundlegend mit der Entwicklung strukturschwacher Regionen. Sie untersuchen insbesondere die Möglichkeiten der Digitalisierung, die Lebensqualität und Daseinsvorsorge im ländlichen Raum zu verbessern. Dazu werden Studien erstellt, Best Practices erforscht, Projekte entwickelt sowie Kommunen und andere Akteure beraten und ganz konkret bei der Umsetzung von Vorhaben unterstützt.

So ist neuland 21 gemeinsam mit dem Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung in der Studie „Urbane Dörfer” der Frage nachgegangen, „Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann”. Tatsächlich sind es urbane Milieus, von denen schon bisher die wesentlichen Impulse für neue Projekte ausgehen. Digitalkonferenzen sind ein typischer Nährboden, auf dem Ideen entstehen, um sich Lebenswelten im Grünen zu schaffen. Das wird à la „Landlust” teils idealisiert, aber auch pragmatisch angegangen.

Die Projekt-Macher sehen die Möglichkeit, eigene, ideale Strukturen zu schaffen, anstatt sich mit Gegebenheiten und Zwängen des Stadtlebens abzufinden. Man will bewusst Gemeinschaften bilden, die ähnliche Interessen haben und sich trotzdem ergänzen. Arbeiten und leben an einem Ort bildet für viele ein zentrales Motiv. Das kann natürlich nicht jeder, sondern ist vor allem denen vorbehalten, die ihre Arbeit online erledigen können. Damit ist die digitale Anschlussfähigkeit einer Region Voraussetzung und Hebel zugleich. Kommunen, die kein ordentliches Internet haben, bleiben abgehängt, eine leistungsfähige Anbindung ist dafür ein klarer Standortvorteil. Eine gute Verkehrsverbindung ist auch ein wichtiges Kriterium. Dabei zählt nicht der Autobahnanschluss, sondern vor allem die Bahn, denn die neuen Landbewohner wollen nachhaltig unterwegs sein. Das heißt: keine Infrastruktur, kein Interesse, ein Projekt anzusiedeln.

Man will bewusst Gemeinschaften bilden, die ähnliche Interessen haben und sich trotzdem ergänzen. Arbeiten und leben an einem Ort bildet für viele ein zentrales Motiv.

So bildet sich in einer Innovationsregion ein Ökosystem, in dem einzelne Akteure oft gleich mehrere Rollen innehaben – sie machen nicht nur ihr eigenes Ding, sondern bringen ihre Fähigkeiten in anderen Zusammenhängen ein.
Die Treiber der neuen Blüte.

Nun können die Kommunen nichts dafür, wenn Bahnhöfe schon vor Jahren stillgelegt wurden. Auch die Versorgung mit Glasfaserkabeln ist nur bedingt beeinflussbar. Wie wichtig die Digitalisierung für die ländliche Entwicklung insgesamt ist, sollte bei den Verantwortlichen aber langsam ankommen. Denn unabhängig von Zuzüglern aus der Stadt sind Lösungen, beispielsweise für Transport- und Fahrdienste oder dezentrale Energiesysteme, gefragt. In einer Studie zur digitalen Transformation gaben 95 Prozent der befragten Kommunen in Brandenburg an, keine Digitalisierungsstrategie zu haben, bei 88 Prozent gibt es dementsprechend auch keine Digitalisierungsbeauftragten. Interessant ist, dass 55 Prozent mit dem Thema Smart City wenig anfangen können, aber 47 Prozent bereits Maßnahmen dafür umsetzen. Gemeint sind damit aber hauptsächlich öffentliches WLAN oder Verwaltungsvorgänge. Es fehlt verständlicherweise an Expertentum vor Ort. Dazu können wiederum die Digitalspezialisten aus der Stadt beitragen und das tun sie auch.

Mindestens so wichtig wie Infrastrukturen sind engagierte zivilgesellschaftliche Innovationsträger, ist die Erfahrung von Silvia Hennig, der Gründerin und Geschäftsführerin von neuland 21. Die Initiatoren von Projekten wie Coconat und KoDorf sind meist versiert darin, im Netz und in den sozialen Medien für Sichtbarkeit ihrer Ideen zu sorgen. So finden sich schnell Interessierte, die zu Meet-ups zusammenkommen und bald eine feste Gruppe bilden. Silvia Hennig hat erlebt, wie dann der Funke von den Projekttreibern auch zu regionalen Amtsträgern überspringen kann. Die Bürgermeister von Bad Belzig und Wiesenburg sind jedenfalls heute selbst glühende Verfechter smarter Landlösungen. Im Umfeld ihrer Gemeinden haben sich in kürzester Zeit jede Menge weitere Aktivitäten entwickelt.

So verfügt Bad Belzig jetzt über eine „Smart Village App” mit vielfältigen, bürgerrelevanten Infos und Services, auch für Mitfahrgelegenheiten, und mit einem eigenen Stadt-Podcast. Eine Besonderheit der App: Sie basiert auf Open Source, der Programmiercode ist allen Kommunen, die auch so etwas aufbauen wollen, frei zugänglich.

„Wir zu Lande” ist ein Projekt, mit dem der lokale Journalismus gefördert werden soll. Regionalen Medien wird bei der Modernisierung ihrer Angebote geholfen, hier vernetzen sich Medienschaffende und werden Workshops angeboten, wo man zum Beispiel lernt, einen Podcast zu produzieren. Dabei sollen vor allem die Bürger selbst befähigt werden, zu berichten, was sie bewegt, und Formate dafür entwickeln.

Inzwischen ist das Smart Village auch 5G-Modellregion für ein autonomes On-Demand-Ridepooling-Angebot. Damit soll ein 5G-basierter, intelligenter ÖPNV erprobt und am besten natürlich auch etabliert werden. Für den autonomen Fahrmodus könnte eine Teststrecke im ländlichen Raum entstehen. Finanziert wird das Vorhaben im Rahmen eines Innovationswettbewerbs des Bundesministeriums für Verkehr und Infrastruktur. Auch hinter anderen Projekten stecken Förderungen, ohne die vieles nicht realisiert werden könnte. Damit kommt noch ein wichtiger Aspekt zum Tragen: Es muss Leute geben, die wissen, wo und wie man Fördertöpfe anzapft. Diese Experten sind auch nicht unbedingt in den dörflichen Ämtern zu Hause – sondern kommen als Verstärkung von außen.

So bildet sich in einer Innovationsregion ein Ökosystem, in dem einzelne Akteure oft gleich mehrere Rollen innehaben – sie machen nicht nur ihr eigenes Ding, sondern bringen ihre Fähigkeiten in anderen Zusammenhängen ein. Ein Erfolgsfaktor ist wie anderswo auch das Teilen von Wissen und die Offenheit für Kollaborationen. Das beinhaltet, erfolgreiche Lösungen auch anderen Regionen ohne Beschränkungen zugänglich zu machen. Damit Konzepte skalieren können und statt digitaler Insellösungen Schnittstellen untereinander entstehen.

Umgekehrt kann man daraus unschwer die Hindernisse ableiten. Eine untätige oder innovationsfeindliche Verwaltung – „Das haben wir noch nie so gemacht!” – kann jedes noch so smarte Projekt blockieren. Ohne Innovationsträger – und das sind gerade am Anfang, wenn auch in eigener Mission, meist ehrenamtlich Tätige – kommen Veränderungen erfahrungsgemäß kaum in Gang oder nur schwer in Schwung. Und ohne eine kritische Masse an Mitstreitern laufen sich auch gut gestartete Initiativen früher oder später tot. Nicht zuletzt ist Akzeptanz erforderlich. Wenn in den bestehenden Strukturen eine „digitale Elite“ als Parallelgesellschaft entsteht, ist keinem wirklich geholfen und wird keine nachhaltige Entwicklung wirksam.

Die „Summers of Pioneers”.

Frederik Fischer ist der Initiator des Wiesendorfer „KoDorfs” und auch sonst ein sehr umtriebiger Typ. So hat er die Stadt Wittenberge – auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg – für den ersten „Summer of Pioneers” gewonnen. 2019 lud Wittenberge 20 Digitalarbeiter aus Großstädten ein, das Landleben für ein halbes Jahr zu erproben. Alle Teilnehmer wurden mit einer möblierten Wohnung empfangen. Zusätzlich gab es gratis Arbeitsplätze in einem eigens dafür eingerichteten Coworking Space in einer ehemaligen Ölmühle mit Blick auf die Elbe. Inzwischen ist schon die zweite Runde Probanden bei der Arbeit. Die Anbindung macht Wittenberge zusätzlich attraktiv, am Bahnhof fahren nicht nur stündlich Regionalzüge, sondern auch mehrmals täglich ICEs in Richtung Haupt- oder Hansestadt. In den vergangenen Jahren hatte die Kleinstadt in der Prignitz große Probleme mit der Abwanderung insbesondere der jungen Bevölkerungsteile. Man kann Reportagen nachlesen, in denen Wittenberge als exemplarisches Beispiel ländlicher Verödung dargestellt wird. Mit der Pionier-Aktion ist ein neues Bild entstanden. Viele Medien bis hin zum britischen Fernsehen berichteten positiv darüber. Im Umfeld haben sich wie schon im Fläming weitere Initiativen entwickelt. Mit dem „Stadtsalon Safari” ist in einem ehemaligen Ladengeschäft am zentralen Bismarckplatz ein Raum für Veranstaltungen, Workshops, Austausch und Vernetzung entstanden.

Der Summer of Pioneers ist unterdessen auch im 300 Kilometer entfernten Homberg an der Efze gelandet, wo das Projekt eins zu eins adaptiert wird. Die Kleinstadt in Nordhessen ist eine „Città- slow”. So heißt ein Netzwerk von weltweit 200 und in Deutschland 22 Kommunen mit weniger als 50.000 Einwohnern, die sich der Nachhaltigkeit und Förderung regionaler Besonderheiten verschrieben haben. Ziel ist der Erhalt oder die Wiederbelebung klein-städtischer Lebensqualität. In Homberg gehört dazu auch Europas größtes Breitbandprojekt, in dessen Koordination die Verwaltung eingebunden war. Damit wurden 2.200 Kilometer Glasfaser verlegt, um schnelles Internet in 570 nordhessische Orte zu bringen.

In Homberg wird Zukunft ganzheitlich als Verbindung von Natur, Tradition und Innovation gedacht. Die Region bewirbt sich um die Anerkennung als Naturpark und es gibt eine junge Biobauern-Gemeinschaft. Im Stadtzentrum soll rund um den historischen Marktplatz mit den „Pioneers” ein Campus für das Landleben von morgen entstehen. Im Gründernetzwerk HOMEberger sind 24 Unternehmen organisiert, die unter anderem Carsharing-Angebote machen oder fair produzierte, nachhaltige Smartphones bauen.

In diesem Sommer werden sich also 20 neue Homberger probeweise in denkmalgeschützten Fachwerkhäusern einquartieren, um bei- und miteinander zu wohnen und zu arbeiten – und wieder neue Impulse mitzubringen und weitere Projekte zu entwickeln. Die Stadt hat zwar keinen eigenen Bahnhof. Sie stellt aber E-Bikes und Lastenfahrräder bereit und man kann sich ein Auto oder den Sammelbus teilen. Die Infrastruktur ist also teils, teils: super Internetverbindung, aber ein paar Minuten Fahrt bis zum ICE. Alles in allem nicht nur für Pioniere kein schlechter Ort zum hin und weg sein.

Hier ein paar Links für alle, die sich für ein smartes Landleben interessieren:

 

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