Zurück in die Jugend – danach sehnt man sich normalerweise nur in sentimentalen Momenten. Das Virus hat mich irgendwie in meine Kindheit zurückgebracht – lange Haare und ab 20:00 Uhr Hausarrest erinnert mich an die Zeit vor ca. 50 Jahren. Sicherlich eine der wenig amüsanten Auswirkungen der Pandemie.

Weitaus gravierender sind die Auswirkungen auf die Führungsarbeit, die sich im vergangenen Jahr komplett verändert hat. Jeder Mitarbeiter verarbeitet diese Situation anders: Sorgen, Nöte, Verunsicherung, Ängste, Panik, Coolness, Gleichgültigkeit, Besserwisserei, Untätigkeit, Ratlosigkeit, Mut, Demotivation, Wut, Querdenken. Alles ist vertreten, denn jeder Mensch ist verschieden in seinem Tun und Sein. Und das ist auch gut so! Keine einheitliche Euphorie, wie z. B. bei der Fußball-WM 2014. In solchen euphorischen Phasen hat man es als Führungskraft leichter. Fast alle haben gute Laune und sind täglich motiviert.

Covid-19 hat alles verändert.

Beim Frühstück dachte man früher eventuell darüber nach, dass man beim Betreten der Firma direkt zu dem einen oder anderen Mitarbeiter gehen möchte. Kurzes Schwätzchen im Treppenhaus oder in der Kaffeeküche. Mit welchem Mitarbeiter gehe ich zum Essen? Wer begleitet mich zum Kunden? Und heute? Kein kurzes „mal zum Mitarbeiter gehen“, kein gemeinsames Mittagessen in der Kantine, keine Besprechung bei der Fahrt zum Kunden. Kommunikation funktioniert seit einem Jahr anders.

IT suggeriert, dass dies alles kein Problem sei: Video ist der Schlüssel. Auf gut Deutsch: Collaboration. Beim Kollegen oder Kunden kurz per Teams anklopfen – belegt. 15 Minuten später – immer noch belegt. Ok, mache ich morgen. Am nächsten Tag ist es wahrscheinlich vergessen. Dann doch lieber gleich eine E-Mail oder Textnachricht schreiben. Er liest das bestimmt gleich. Die Antwort ein paar Tage später zeigt mir, wie schnell die Zeit vergeht. Aber es gibt ja noch die vielen Mitarbeiter, die ich mal kurz per Teams erreichen kann. Die „Anklopfliste“ wird lang und länger. Die Augen werden durch die vielen Video-Sessions immer eckiger. Ich komme mir langsam vor wie ein „Vidiot“. Termine sind trotz großer Entfernungen nur noch einen Mausklick voneinander entfernt. Zumindest hat das etwas Beruhigendes: Es gilt als nachhaltig und ich schone die Umwelt.

Wie schnell und einfach wurden doch viele Fragen auf dem Flur, in der Kaffeeküche oder beim Mittagessen beantwortet. Wie entspannend und unterhaltsam die Fahrt zum Kunden war. Acht Stunden Video-Marathon sind mittlerweile jedoch keine Seltenheit mehr. Haben meine Mitarbeiter auch diese Probleme? Ist das alles überhaupt noch effizient?

Änderungen der Kommunikationsabläufe sind notwendig. Ständig neue Tools einzuführen, ohne die Mitarbeiter regelmäßig zu schulen, ist kontraproduktiv. Denn für manch einen ist die Gesamtsituation mit Homeoffice und Co. sowieso schon überfordernd genug. Wenn nun auch noch neue Tools einfach ohne vorherige Einweisung eingeführt werden, ist der Lerneffekt gleich null.

New Work macht vor keiner Führungskraft halt.

Und wie geht es meinen Mitarbeitern überhaupt? Klappt alles? Gibt es Klagen, die seit dem ruhenden Flurfunk nicht mehr zu mir gelangen? Wie gibt man Mitarbeitern das Gefühl, noch bei einer Firma und nicht bei einem virtuellen Konglomerat beschäftigt zu sein? Ohne die Möglichkeit, aktiv auf meine Mitarbeiter zuzugehen, lassen sich diese Fragen nicht mehr beantworten. Aber wie war das mit der Anklopfliste? Lang und länger! Kann ich einfach per Videocall anrufen, oder fühlen sich dann alle kontrolliert?

Viele neue Fragen, die sich mit der Zeit zwar beantworten lassen, aber dann immer wieder neue Fragen hervorrufen. Ist es nach einer bestimmten Zeit egal, für welchen Arbeitgeber man morgens seinen Rechner startet? Gerät Loyalität in Vergessenheit? Wie binde ich Mitarbeiter remote an das Unternehmen? Da unzufriedene Mitarbeiter meistens wegen Führungskräften kündigen, muss die Frage wohl eher lauten: Wie binde ich die Mitarbeiter an mich?

Kurzum: New Work macht vor keiner Führungskraft halt. Digitale Arbeitsweisen müssen beherrscht werden, um hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Ohne digitale Arbeitsweise wird in Zukunft niemand Erfolg haben. Auch nach der hoffentlich bald endenden Pandemie wird uns diese remote Arbeitsweise weiter begleiten. Insbesondere im Vertrieb muss anders gearbeitet werden: Wie komme ich virtuell zum Kunden? Wie bekomme ich remote sein Vertrauen? Per Video empathisch rüberkommen? Kundennutzen aufzeigen? Wieder viele Fragen, die eine Führungskraft beantworten muss. Remote zusammenarbeiten! Allein das widerspricht sich schon im Wortlaut. Remote und zusammen – geht das überhaupt? Sicherlich – aber nur durch Veränderung der Arbeitsweisen.

Führung wird sich immer stärker in Richtung Anführen, Vorleben, Verbinden, Begleiten und Coachen bewegen. Erfolg und Ziele müssen nach wie vor gemessen werden. Aber dies geht nur, wenn man als Führungskraft mit seinen Mitarbeitern intensiv zusammenarbeitet, aktiv am jeweiligen Erfolg mitarbeitet und dem Mitarbeiter Sicherheit vermittelt – egal wo der Mitarbeiter sich befindet. Aus den Augen, aus dem Sinn darf es nicht geben. Auch entfernt ist man einander nahe.

Nichts ist beständiger als der Wandel.

Die neue Führungskraft achtet noch mehr darauf, dass Mitarbeiter nicht ständig vor dem Rechner sitzen. Vieles lässt sich z. B. auch bei einem gemeinsamen Spaziergang besprechen und schont die Augen. Warum nicht Mitarbeiter dazu animieren? Erfolg entsteht nicht nur am Schreibtisch. Auch Kunden gehen gerne spazieren. Im Freien lassen sich die AHA-Regeln leicht einhalten und man kombiniert Bewegung und frische Luft mit effektiver Arbeit. Muss es immer eine Video-Session sein? Ein klassisches Telefonat mit Ohrstöpseln im Wald liefert am Ende sicher identische Ergebnisse. Denn zuhören kann man auch beim Laufen. Hat der Betriebsarzt nicht immer darauf hingewiesen, dass man sich tagsüber mehr bewegen soll?

Nicht nur New Work sprechen, auch machen. Letztendlich ist es egal, wie man zum Erfolg kommt. Wichtig ist, dass man zum Erfolg kommt. Klappt es nicht wie früher, dann muss man eben neue Wege gehen. Eines ist ganz wichtig: die Erkenntnis, dass nichts mehr so wird, wie es früher einmal war – und davon sollte man sich nicht verunsichern lassen. „Nichts ist beständiger als der Wandel“, das wussten schon Heraklit bzw. Darwin.

Führen bedeutet gerade in dieser Zeit, Mitarbeiter zu begleiten, als Mentor zu dienen und trotz Wandel Sicherheit zu geben. Es gibt unzählige Wege, dies umzusetzen. Die eine passende Lösung gibt es nicht. Jeder Mensch tickt anders und das muss respektiert werden - umso mehr in dieser schwierigen Zeit.

Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Das ist das Interessante an Führung – durch Krisensituationen wird es noch interessanter.