
Herr Wintergerst, Sie waren erfolgreicher Karateka. Welche Eigenschaften aus ihrer Zeit als Wettkämpfer helfen Ihnen im Beruf?
Ralf Wintergerst: Ich habe den Sport mit großer Leidenschaft und Disziplin betrieben und trage ihn heute noch im Herzen, auch wenn ich nicht mehr aktiv an Wettkämpfen teilnehme. Leistungssport und Erfolg im beruflichen Umfeld haben vieles gemeinsam; ich bin überzeugt, dass man bei beidem Ziele braucht und auch eine gewisse Hartnäckigkeit, um diese zu erreichen. Darüber hinaus erlernt man den Umgang mit Niederlagen. Bei einem Misserfolg wirft man nicht alles hin, sondern lernt aus dem Geschehenen, steht wieder auf und versucht es erneut. Diese Orientierung an einem Ziel, ist nicht nur für Einzelne wichtig, sondern auch für Unternehmen, die Politik, ein ganzes Land. Dazu braucht es einen Nordstern. Wer nicht Deutscher Meister werden will, wird auch nicht Deutscher Meister.
Wenn dieser Nordstern das aktive, positive Gestalten der digitalen Transformation ist, wo stehen wir in Deutschland dann?
Als Bitkom-Präsident habe ich zu diesem Thema natürlich eine unserer Studien im Kopf. Die besagt, dass sich nur etwa ein Drittel der Unternehmen digital gut aufgestellt sieht. Diese Unternehmen haben den Eindruck, dass sie mit digitalen Leistungen punkten und diese auch vermarkten können. Das heißt aber auch, dass zwei Drittel aktuell hinterherlaufen. Das ist ein Alarmzeichen und einer der Gründe, warum wir insgesamt als Land mehr in Digitalisierung investieren müssen. Dabei muss klar sein, dass die digitale Transformation nicht um der Transformation Willen geschehen muss. Sie dient der Zukunftsfähigkeit der Unternehmen und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle.
Lassen Sie uns das Rückgrat der deutschen Wirtschaft etwas genauer unter die Lupe nehmen – den Mittelstand. Wie ist die Lage hier?
Der Mittelstand hat mit dem U-Kurvenphänomen zu kämpfen. Er ist weder Konzern, der Projekte vielleicht auch nebenher machen kann, noch agiles Start-Up. Er hängt im U unten in der Mitte. Das ist für digitale Innovationen eine Herausforderung. Grundsätzlich braucht es auch im Mittelstand spezielle Expertise, um Prozesse neu zu definieren, es braucht Anschubfinanzierung, die Kraft, Dinge eine Zeit lang parallel betreiben zu können und die Bereitschaft, sich vom tradierten Geschäftsmodell zu trennen.
Kann Künstliche Intelligenz, das Business-Megathema dieser Zeit, an dieser Stelle entscheidend unterstützen?
Ich würde da gerne auf eine unserer Studien blicken, in der 68 Prozent der Unternehmen sagen, dass KI die wichtigste Zukunftstechnologie ist. 29 Prozent hingegen sagen, dass KI ein Hype sei, der schnell wieder vorübergeht. Der Eindruck ist aktuell folgender: Je größer die Unternehmen, desto größer ist bereits der Einfluss von KI. Ich bin überzeugt, dass kleine und mittlere Unternehmen, dass produzierende Unternehmen, dass die genannten 30 Prozent die Möglichkeiten von KI deutlich unterschätzen.
In welchen Bereichen?
KI kann Prozesse beschleunigen und Produktivität verbessern. Das beginnt – und das sind nur Beispiele – bei der internen Wissensvermittlung, bei der zum Beispiel Chatbots langes Suchen nach Dokumenten aller Art ersetzen. Ein zweiter Bereich, vor allem in der Produktion, ist Predictive Maintenance. Das ist kein neues Thema, gewinnt aber mit KI noch einmal deutlich an Tempo und Leistungsfähigkeit. Und dann geht es natürlich um neue Geschäftsmodelle, neue Produkte und Lösungen. Dabei können Unternehmen Bestehendes anreichern oder gänzlich neu entwickeln.

Das haben Sie auch bei Giesecke+Devrient (G+D) gemacht – die Wandlung von einer Gelddruckerei zu einem Technologieunternehmen im Umfeld von digitaler Sicherheit und Finanzplattformen.
Giesecke+Devrient wurde 1852 in Leipzig gegründet. Paris war damals eine Art Silicon Valley, Leipzig der kleine Bruder der französischen Metropole. Schon damals haben wir uns durch Technologie differenziert, indem wir keine Standards, sondern hochwertige, sicherheitsrelevante Dokumente produziert haben – Banknoten oder Aktien. Das Innovative war von Anfang an die DNA der Firma. Ebenso wie die Wandlungsfähigkeit, ansonsten wird man keine 170 Jahre alt.
Können Sie ein konkretes Beispiel bei G+D nennen?
Die elektronische SIM-Karte. Die traditionelle SIM-Karte ist ein physisches Produkt. Man macht eine großartige Fertigung und Qualitätssicherung, verkauft sie pro Stück und der Kunde legt los. Eine eSim ist ein Betriebssystem, ein Lizenzmodell. Es läuft in der Aktivierung über unser Serversystem, braucht eine völlig andere Methode zur Rechnungsstellung. Da musste so viel im Backoffice geändert werden, dass wir nicht nur Befürworter im Unternehmen hatten.
Und dennoch haben Sie es gemacht?
Ja, weil es sonst ein anderer macht und weil wir den Wandel selbst gestalten wollen. Wir sind heute weltweit auf einem Markt führend, den es vor zehn Jahren noch gar nicht gab.
KI brauchen Sie dazu auch?
Wir haben ein Projekt laufen, den sogenannten AI Accelerator, um herauszufinden, wie wir KI schneller im Unternehmensalltag einsetzen können. Ich habe gedacht, dass wir da an einigen Stellen schon weiter sind, aber das ist nicht der Fall. Wichtig ist, dass wir jeden Tag dazu lernen – KI wird nicht von Tag eins an den Unterschied machen. Die Sprachmodelle müssen trainiert werden. Und dieses Trainieren muss man trainieren. Viele Informationen als Input bedeuten nicht zwingend gute Information als Output. Und man muss die Mitarbeitenden und Teams qualifizieren, sie im Zweifel erst schaffen. Deshalb sind die Effekte von KI häufig erst übermorgen zu spüren.
Aber Unternehmen sollten heute beginnen?
Unbedingt. Künstliche Intelligenz ist mehr als ein Versprechen, sie bietet Möglichkeiten, die uns jetzt offenstehen. Unternehmen müssen sich auf einen Lernpfad begeben. Lassen sie mich noch mal zum Leistungssport zurückkommen: Niemand startet bei den Deutschen Meisterschaften, es geht bei den Kreismeisterschaften los. Es geht darum, Projekte zu finden, die Wirkung entfalten, und darum Mitarbeitende zu begeistern, sie vorzubereiten, zu schulen und dann in die Fläche zu gehen und zu skalieren.
Warum sollten wir jetzt starten?
Weil wir spielen, um zu gewinnen. Wenn wir als Land mit nur 84 Millionen Einwohnern in der Technologiewelt vorne mitspielen wollen, dann brauchen wir Innovationen, Mut und Aufbruchsgeist. Dafür brauchen wir keinen Elon Musk, sondern 1.000 Unternehmen mit 100 Millionen Euro Umsatz im Digitalbereich. Das wäre der neue deutsche, digitale Mittelstand.
Jetzt haben wir viel über KI gesprochen. Welche anderen Technologien und Themen werden in der Transformation eine Hauptrolle spiele?
Aus meiner Sicht wir das Thema Next Generation Computing, zu dem unter anderem auch das Quantencomputing gehört, sehr wichtig werden. Quantencomputing und KI werden ein Duo bilden, das ganz entscheidend sein wird. Wie wir hier als Land investieren, auch um digital souverän zu sein, ist von großer Bedeutung. Und natürlich müssen wir dabei auch immer das Thema Sicherheit mitdenken. Im Zeitalter von KI und Quantencomputern müssen wir hier eine neue Stufe erreichen.
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Zur Person.
Ralf Wintergerst ist ehrenamtlich Präsident des Digitalverbands Bitkom und seit 2016 Vorsitzender der Geschäftsführung von Giesecke+Devrient (G+D). Neben seinen Aufgaben als Group CEO ist er zuständig für die Bereiche Informationssysteme, Konzernsicherheit, Compliance Management und Revision, Unternehmenskommunikation, Mergers & Acquisitions, Unternehmensstrategie sowie -entwicklung, Recht und Corporate Governance. Der ehemalige Karateka hat Betriebswirtschaftslehre studiert, hält zudem zwei Masterabschlüsse in den Fachgebieten Management und PPW (Politik Philosophie Wirtschaft) und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Thema Corporate Governance und Unternehmensführung promoviert.