
Prof. Marsden, Sie haben Ihr Abitur auf einer Mädchenschule absolviert und sind heute Professorin für Informatik. Das klingt erst einmal etwas ungewöhnlich ...
Ist es aber nicht. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass sich Mädchen in monogeschlechtlichen Schulen in den MINT-Fächern häufig freier und besser entwickeln, weil das Stereotyp, dass Mathe, IT und Naturwissenschaften etwas für Jungs sind, wegfällt. Wenn man Mädchen in diesem Umfeld ermuntert, ihre Vorlieben und Talente zu entwickeln, ist das etwas sehr Positives.
Welche Einflussfaktoren gibt es noch?
Wir sind soziale Wesen. Das heißt, die Frage, ‘Wo fühle ich mich wohl?', spielt eine zentrale Rolle. Vor allem auch in der Pubertät, in der die Geschlechtsidentität eine wichtige Rolle spielt. Jugendliche stellen sich häufig die Frage, wo sie dazugehören, fragen sich, wo Menschen ähnlich sind. Und wenn ich dann als einziges Mädchen in den Informatik-Kurs gehe, fühle ich mich eventuell nicht so wohl.
Sind das auch Themen, mit denen Sie sich aktiv in ihrer Forschung befassen?
Ja und nein, mein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Wechselwirkung zwischen Menschen und IT- oder KI-Systemen. Vereinfacht gesagt, schaffen wir selbst IT- und KI-Produkte und mit diesen schaffen wir dann Realität, oder sie werden Teil unserer Realität. Die leitende Frage ist, wie müssen wir IT und das Umfeld gestalten, sodass Geschlechtergerechtigkeit entsteht.
Und wie erforscht man das?
Das Besondere an unserem Ansatz ist, dass wir das Labor verlassen, in Unternehmen gehen und uns alles unter Realbedingungen vor Ort anschauen. Wir beobachten Menschen in ihrem täglichen Arbeitsumfeld und finden heraus, wie dort Entwicklung stattfindet, wie Systeme gestaltet werden und welche Auswirkungen das hat.
Sie haben als eine der wichtigsten Erkenntnisse folgendes formuliert: „Frauen brauchen keine Sonderbehandlung, sondern nur die gleichen Bedingungen wie Männer.” Wie kommen sie darauf?
Frauen erhalten im beruflichen Umfeld immer wieder die Empfehlung, sie sollten sich wie die männlichen Kollegen verhalten. Dasselbe Verhalten wird bei Frauen und Männern aber ganz unterschiedlich bewertet.
Was bedeutet das für die Praxis?
Wir müssen dieselben Voraussetzungen für Männer und Frauen schaffen. Wir wissen zum Beispiel, dass Frauen in Meetings häufiger unterbrochen werden als Männer. Also müssen wir ein Setup schaffen, das dafür sorgt, dass diese Unterbrechung nicht stattfindet. Aber es geht natürlich noch viel weiter, vor allem im Zusammenhang mit IT, besonders KI.
Das größte Potenzial, das wir aktuell in Deutschland haben, liegt bei den hochqualifizierten Frauen zwischen 25 und 35 Jahren.
Prof. Dr. Nicola Marsden
Welche Potenziale entfalten sich da und was sind die Strategien der Unternehmen?
In der Tat gibt es durch KI völlig neue Möglichkeitsräume. Das haben wir in 13 Unternehmen mit 219 Frauen und in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO herausgefunden. Das liegt vor allem daran, dass für die Entwicklung, Einführung und Nutzung von KI ein sehr breites Spektrum an Kompetenzen benötigt wird. Interdisziplinäres Denken und Arbeiten ist mit KI keine Option, sondern essenziell für den Erfolg.
An welchem Beispiel können sie das gut erklären?
Wenn wir über Künstliche Intelligenz sprechen, meinen wir ganz häufig Large Language Modelle, also sprachbasierte Systeme, bei denen genau das – Sprache – eine unabdingbare Kompetenz ist. Zum Beispiel, um neuartige Nutzungsinterfaces zu bauen. Da ist KI anders als klassische IT und deshalb entstehen viele neue Rollen, die die klassische Unterscheidung zwischen technischer und nicht-technischer Kompetenz nicht mehr zulassen. Im Gegenteil, um die besten Ergebnisse zu erreichen, muss ich Kompetenzen kombinieren und vieles neu denken.
Ganz konkret, welche Rolle spielen Frauen bei dieser Entwicklung?
Vorneweg möchte ich sagen, dass wir es grundsätzlich mit einem großen Fachkräftemangel zu tun haben. Deshalb gibt es in vielen Unternehmen große Bereitschaft, weiterzudenken und Dinge anders zu machen. Und dazu kommt folgendes: Das größte Potenzial, das wir aktuell in Deutschland haben, liegt bei den hochqualifizierten Frauen zwischen 25 und 35 Jahren. In dieser Altersgruppe haben 41 Prozent der Frauen einen Hochschulabschluss – über alle Disziplinen hinweg. Durch gezielte Weiterbildungsprogramme in der IT können wir hier ein enormes Potenzial entfalten. Die Unternehmen müssen Strategien entwickeln, um das auf die Straße zu bringen.
Mit „Female Upgreat“ (FEAT) startet die im Juni 2024 gegründete Bechtle Stiftung das erste Stipendienprogramm zur langfristigen Förderung und Begleitung von Mädchen und Frauen im IT-Umfeld. Im Vordergrund stehen Maßnahmen von der Berufsorientierung bis zum Karrieremanagement. Ziel ist es, mehr Mädchen und Frauen für eine IT-Karriere zu gewinnen, sie bis zu 15 Jahre auf ihrem Weg in Fach- und Führungspositionen zu begleiten und sie dort auch in der Weiterentwicklung zu begleiten. Die Realisierung des Programms erfolgt in enger Zusammenarbeit mit der Gerhard und Ilse Schick Stiftung.
Mehr unter bechtle-stiftung.com
Das komplette Gespräch hören Sie im IT-Zukunftspodcast Basis 108.
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Aber dann müssen die Frauen auch in der IT bleiben ...
Das ist in der Tat eine Herausforderung: Mit über 30 Jahren arbeiten nur noch 20 Prozent der Frauen in ihrem erlernten IT-Beruf, mit 45 Jahren sind es gar nur noch 9 Prozent. Das heißt, wir haben Frauen in der IT, wir verlieren sie aber im Laufe ihrer Karrieren. Hier müssen wir in einer männerdominierten Branche kulturell ran. Das ist ein wenig wie das Schulthema vom Anfang unseres Gesprächs. Frauen müssen sich im Beruf ständig gegen Diskriminierung abgrenzen, sie müssen sich in jeder neuen Situation beweisen und ihre Kompetenz wird wieder und wieder in Frage gestellt.
Wie können wir gegensteuern?
Führung, Wahrnehmung und Vorbilder spielen eine wichtige Rolle und sie hängen alle zusammen. Zum einen braucht es weibliche Vorbilder, am besten in Führung. Und dann müssen Frauen in ihren Abteilungen und Teams als Teammitglieder und nicht als Frauen wahrgenommen werden. Im Fachjargon spricht man dann von Tokenism, das bedeutet, dass man nicht als Individuum, sondern als Repräsentanz der eigenen Kategorie wahrgenommen wird. Darüber hinaus braucht es Führungspersönlichkeiten, die entstehende Gruppendynamiken nicht einfach laufen lassen, sondern agieren. Denn diese Dynamiken wirken sich meist negativ auf Minderheiten, im Fall der IT also auf Frauen, in Teams aus.
Die Zahlen, die wir vorher besprochen haben, kommen natürlich auch vom weiblichen Lebenslauf. Vom Mutter werden und der damit verbundenen Care-Arbeit ...
Im Kern ist es entscheidend, dass Care-Arbeit nicht an den Frauen haften bleibt. Auch hier spielen Vorbildfunktionen eine Rolle. Es gibt große Unternehmen, die gezielt männliche Vorbilder prominent zeigen, die Care-Arbeit übernehmen, die Elternzeit machen. Bei diesem Thema ist es aber auch so, dass Männer es nicht leicht haben, da ihnen zu oft signalisiert wird, dass das gar nicht gewünscht ist, dass es sich negativ auf ihre Karriere auswirken wird.
Jetzt haben wir viel über Frauen in der IT gesprochen, aber das Thema Diversität hat ja noch viel mehr Facetten.
Ja, natürlich. Alter, Migrationshintergrund, Religion, um nur einige zu nennen. Um die ganze Kraft diverser Teams zu nutzen, braucht es lernbereite Menschen und psychologische Sicherheit. Es geht darum, Fehler offen kommunizieren zu können und daraus zu lernen. Und das geht nur mit Transparenz. Führungskräfte müssen Fragen und Kritik zulassen und niemand darf als Querulant:in wahrgenommen werden.
Das sind alles zutiefst menschliche, soziale Themen. Und jetzt soll uns die Einführung der KI, eine komplexe Technologie helfen, diese Themen zu betonen?
Ja, KI ist technisch, aber sie ist gleichzeitig viel mehr. Sie hat einen Einfluss auf viele unterschiedliche Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft und um ihre Kraft zu heben, benötigen wir einen interdisziplinären Ansatz. Künstliche Intelligenz hat die Innovationskraft eine Welt für alle zu schaffen. Dann benötigen wir aber auch im Umgang, bei der Nutzung, der Programmierung von KI alle.
Nicola Marsden ist Professorin für Sozioinformatik an der Hochschule Heilbronn und hat einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Gender und IT. Die Diplom-Psychologin kombiniert Erkenntnisse aus Psychologie, Softwaretechnik, Designforschung und Organisationsverhalten, um die Zusammenarbeit zu verbessern und Innovationen in der Technologieentwicklung zu fördern. Prof. Dr. Nicola Marsden berät Unternehmen und engagiert sich ehrenamtlich, u.a. als Gründungsmitglied der Fachgruppe Partizipation bei der Gesellschaft für Informatik und als stellvertretende Vorsitzende des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit. Als Expertin für Gender und IT ist sie u.a. auf EU-Ebene, für den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung und von der Deutschen UNESCO-Kommission für KI und Gender gefragt.