Dr. Holger Schmidt: „Wir müssen uns auf kleine, energieeffiziente KI-Modelle fokussieren.“
von Stefan Maurer
Dr. Holger Schmidt beschäftigt sich seit vielen Jahren als Journalist und Hochschuldozent mit dem Thema Künstliche Intelligenz. Im Gespräch erklärt er, warum KI Europas Jahrhundertchance ist, welche wirtschaftliche Rolle KI-Agenten in Zukunft spielen werden und warum Europa auf kleine, industriespezifische, energieeffiziente Modelle setzen sollte.
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E-Mail: stefan.maurer@bechtle.com
Dr. Schmidt, Sie haben einmal gesagt, das KI Europas Jahrhundertchance sei. Was genau meinen Sie damit?
Wenn wir uns die volkswirtschaftliche Entwicklung in Europa ansehen, stellen wir fest, dass das Produktivitätswachstum mittlerweile bei null liegt. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ein Problem – in den kommenden Jahren werden Millionen Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und nicht ersetzt werden. Das ist eine Lücke, die wir schließen müssen. Hier kommt die Künstliche Intelligenz ins Spiel. Als Produktivitätstool kann sie helfen, die Leistung der verfügbaren Arbeitskräfte erheblich zu steigern. Diese Chance müssen wir jetzt ergreifen.
Das bedeutet aber auch, dass wir investieren müssen.
Künstliche Intelligenz ist eine neue Basistechnologie, die für einen solchen Schub sorgt, dass sich das Wirtschaften an sich verändert. Bei solchen Umbrüchen muss man bereit sein, Risiken einzugehen und zu investieren. Leider ist das etwas, das wir vor allem in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten, nicht gelernt haben. Wir neigen dazu, besonders auf die Bremse zu treten.
Was Sie für nicht richtig halten?
Genau, denn es führt dazu, dass wir nach einer Krise einen größeren Abstand haben als zuvor. Wir müssen uns also die Frage stellen, ob wir es uns leisten können, nicht zu investieren. Google Chef Sundar Pichai hat dazu einen schönen Satz gesagt: “Die Gefahr, zu wenig in KI zu investieren ist viel größer als die, zu viel zu investieren.” Wir dürfen an dieser Stelle die Investitionen nicht zurückfahren, weil wir uns ansonsten ein Stück unserer Zukunftschancen abschneiden.
Können die europäischen Investitionen im globalen Vergleich überhaupt mithalten?
Wenn es um die Weiterentwicklung von Large Language Modellen geht, ist die Antwort ganz klar: ‘Nein’. Außer Mistral aus Frankreich haben wir Europäer uns aus diesem Bereich weitgehend zurückgezogen. Bei diesem Wettrüsten müssen wir aber überhaupt nicht mitmachen. Unser Fokus muss ein anderer sein: kleinere Modelle, industriespezifische Modelle, energieeffiziente Modelle. In diesem Bereich gibt es Nachholbedarf und Chancen. Das ist eine Lücke, in die wir stoßen können und müssen.
Was bedeutet das genau?
Das hat zwei Dimensionen. Zum einen werden wir bald sehr viel mehr KI auf unseren Smartphones und PCs haben. Das heißt, nicht jede noch so kleine Anfrage muss von einem in der Cloud betriebenen LLM teuer und mit hohem Energieeinsatz produziert werden. Zum anderen brauchen wir 99 Prozent der Daten, die in diesen Modellen stecken, gar nicht. Wir benötigen das eine Prozent, das für unser Unternehmen oder unsere Branche relevant ist. Und dann werden wir viel mehr kleinere Modelle für den persönlichen und wirtschaftlichen Gebrauch bekommen. Das ist der Weg, den wir in Europa einschlagen sollten.
Künstliche Intelligenz ist eine neue Basistechnologie, die für einen solchen Schub sorgt, dass sich das Wirtschaften an sich verändert. Bei solchen Umbrüchen muss man bereit sein, Risiken einzugehen und zu investieren.
Dr. Holger Schmidt
Gibt es dafür konkrete Beispiele?
Ein ganz einfaches: Kundenkommunikation. Die kann sich nur auf unsere eigenen internen Dokumente stützen. Dafür brauche ich keine Daten aus den USA. Die sind irrelevant. Ein ganz konkretes, spannendes Beispiel kommt aus Berlin. Dort hat ein Start-up eine Software für Jurist:innen gebaut und diese mit europäischen Fällen und Gesetzen trainiert – nur damit. Weil alles andere keinen Sinn macht. Wir können mit unseren Daten die bessere KI für uns bauen.
Das sollte auch für den Mittelstand, das Rückgrat zum Beispiel der deutschen Wirtschaft, möglich sein, oder?
Ja, auch wenn der Mittelstand noch ein bisschen zögerlich ist. Das liegt daran, das viele Mittelständler KI als ein Ding der “Großen” betrachtet haben. Bis zum Aufkommen der generativen KI war das auch so, da brauchte man eine große Abteilung, Data Scientists und einen Haufen Geld, um KI ans Laufen zu bringen.
Das ist nicht mehr so?
Nein, mit der generativen KI hat sich das Spiel verändert. Einstiegshürden und Voraussetzungen sind auf der technologischen Seite viel niedriger geworden. Das ist eine gute Nachricht und deshalb muss sich der Mittelstand jetzt die Frage stellen, welche der vielen Möglichkeiten er nutzen möchte. Wo stecken die viel beschworenen “Low Hanging Fruits” und wo kann ich KI als Hebel nutzen, um zu wachsen.
Welche Rolle spielt der Datenschutz dabei. Die Richtlinien in Deutschland und Europa sind härter als anderswo auf der Welt?
Das sind sie, weil der Schutz von Unternehmens- und Kundendaten logischerweise ein berechtigtes Interesse ist, aber es ist heute keine Raketenwissenschaft mehr, KI-Modelle so zu gestalten, dass sie diesen Anforderungen gerecht werden. Der Datenschutz ist keine Bremse, wenn es um den Einsatz von KI geht.
Lassen Sie uns noch einmal zu den großen Sprachmodellen zurückkommen. Es scheint so zu sein, dass die kommenden Sprünge keine exponentiellen mehr sind. Welche Auswirkungen hat das?
Wir haben ein Plateau erreicht – mehr Daten und mehr Rechenleistung versprechen nicht mehr zwingend bessere Ergebnisse. Aber wir brauchen das auch überhaupt nicht. Die KI ist jetzt schon mächtig genug. Für mich sind KI-Agenten das viel spannendere Thema. Sie werden dafür sorgen, dass alle Mitarbeitenden KI nutzen, weil sie in unsere Prozesse und unsere Software integriert ist. Diese virtuellen Mitarbeitenden werden 60, 70, 80 Prozent unserer derzeitigen Aufgaben übernehmen. Das wird der der Produktivität einen massiven Schub geben und die Skalierung in Unternehmen vereinfachen. Nvidia spricht durch diese Technologie von 100 Millionen neuen Mitarbeitenden, Salesforce gar von einer Milliarde. Das sind gigantische Zahlen.
Ist das eine Entwicklung, auf die Sie mit Freude blicken?
Ja, denn diese Dinge werden uns mindestens in Deutschland helfen, die Auswirkungen des demografischen Wandels zu meistern. Und ich merke es selbst schon heute beim Arbeiten: die KI hilft mir und sie liefert gute Ergebnisse. Wir alle müssen den Umgang damit lernen, uns weiterbilden und mit Begeisterung die Chancen nutzen. Etwas wie die generative Künstliche Intelligenz haben wir alle noch nicht erlebt.
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Dr. Holger Schmidt ist Experte und Speaker für digitale Ökonomie. Seine Kernthemen sind Plattform-Ökonomie, digitale Geschäftsmodelle und künstliche Intelligenz. Der Volkswirt ist Redaktionsleiter Newsletter & Verticals der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und verantwortet das F.A.Z. PRO Digitalwirtschaft-Briefing. Außerdem lehrt er seit 2016 an der TU Darmstadt zu den Schwerpunkten digitale Geschäftsmodelle, Plattformökonomie und Künstliche Intelligenz, schreibt Bücher und ist Co-Host eines Podcasts zum Thema KI.